Infobrief Ausgabe 27 (Februar 2010)

Editorial: Wann kommt das Gute Leben?


...Wir arbeiten, arbeiten, arbeiten,
produzieren, produzieren, produzieren
investieren, investieren, investieren,
konsumieren, konsumieren, konsumieren,
doch wann kommt das „Gute Leben?“


Der obige Spruch stammt nicht etwa von armen Menschen in der Dritten Welt oder von Arbeitern in den Industrieländern. Er stammt von einer Initiative von relativ gut gestellten Leuten der Mittelklasse in den USA.

Hier stellt sich sofort die Frage: Warum sind diese Menschen nicht glücklich? Sie leben im reichsten Land der Welt, haben es zu einem gewissen Wohlstand gebracht, haben ein Haus, ein Auto, vielleicht sogar zwei, Waschmaschine, den neuesten Fernseher, Computer und machen mindestens einmal im Jahre eine größere Urlaubsreise ins Ausland. Warum sind sie also nicht glücklich? Warum meinen sie, sie hätten kein „Gutes Leben? Sie haben doch das, was alle anstreben.

Das ist doch das Modell des „Guten Lebens“ nicht nur für die Amerikaner, sondern für die ganze Welt. Alle bisher „unterentwickelten“ Länder - China, Indien, Brasilien usw. wollen doch dahin kommen, wo die angeblich „Entwickelten“ sind. Was ist falsch an diesem Modell?

In diesem INFOBRIEF wollen wir dieser Frage nachgehen und nach einer Antwort suchen.

Wer diese Frage beantworten will, muss zuerst erkunden, WARUM immer mehr Menschen, vor allem in den reichen Ländern meinen, dass ihr Leben. kein „Gutes Leben“ sei. Was ist also schief gelaufen? Warum sind die, die doch alles haben, nicht zufrieden?

Wir sind es gewohnt, dass in den Ländern des Südens kein „gutes Leben herrscht“. Doch wir dachten immer, diese Länder würden aus ihrer Misere herausfinden, wenn sie dem kapitalistischen Modell des Wirtschaftswachstums folgten. Doch seit der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, ist diese Illusion auch für die reichen Länder geplatzt.

Schauen wir uns zunächst das Leben vieler Menschen in den reichen Industrieländern an. z.B. Japan. Dort arbeiten Angestellte über 14 Stunden pro Tag, weil die Entfernung zwischen ihrer Firma und ihrer Wohnung oft so groß ist und sie morgens rechtzeitig wieder am Arbeitsplatz sein müssen, fahren sie abends gar nicht nach Hause, sondern übernachten in „Hotels“ wo sie in einer Kiste, in die gerade ein Mann passt, übernachten. Diese Kisten nennen sie „Särge“. Sie stehen dauernd unter einem ungeheuren Arbeitsdruck, werden hin und her gehetzt und man droht ihnen mit Entlassung, wenn sie sich beschweren. Ihre Familie und ihre Kinder sehen sie kaum. Ihr Leben ist ein einziger Dauerstress. Kein Wunder, dass sehr viele das nicht lange aushalten. Sie werden depressiv, krank brechen buchstäblich zusammen.Sie können nicht mehr. In Japan nennt man das Karoshi. Es gibt jährlich über Zehntausende solcher Karoshi-Fälle. Dabei sind dies so genannte „Salary Men“, also Männer in ordentlichen blauen, grauen oder schwarzen Anzügen mit Krawatte. Vor Jahren begingen schon tausende von Spitzenmanagern Selbstmord, wenn ihre Firma Pleite machte..

In Deutschland ist die Lage zwar noch nicht so schlimm, doch die Angst, ihren Job zu verlieren, bestimmt auch das Leben unzähliger Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese Angst führt dazu, dass sie nicht mehr wagen, sich krank zu melden, dass sie bereit sind, geringere Löhne und schlimmere Schikanen hinzunehmen. Auch in unserem Land sind Depressionen zu einer Volkskrankheit geworden. Erich Fromm hat bereits 1966 auf die psychologischen Folgen von von Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit und Hunger hingewiesen (Fromm 1966). Die Lage ist noch schlimmer für die Alten, die Obdachlosen, die Armen, die Erwerbslosen (Hartz-IV-Empfänger). Sie haben ihr ganzes Leben lang gearbeitet, aber das hat ihnen kein „Gutes Leben“ gebracht. Sie sind nicht nur arm sondern leiden auch am Verlust ihrer Menschenwürde, wenn sie bei der ARGE um einen billigsten Arbeitsplatz betteln müssen.

Auch die Kinder sind nicht mehr glücklich. Ich höre dauernd schreiende Kinder. Die Mütter, bepackt mit Rucksäcken und Plastiktüten voller Waren aus dem Supermarkt, versuchen verzweifelt sie zu beruhigen. Die Mütter sind gestresst, ihre Kinder sind gestresst und schreien. In unseren Städten, wo Autos wichtiger sind als Menschen, ist kein Platz für Kinder und Mütter. Kein Wunder, dass in Deutschland wie in Japan die Frauen keine Kinder mehr haben wollen. Alle Politiker und Wissenschaftler jammern über den Rückgang der Bevölkerung. Doch niemand fragt, warum viele junge Frauen bei uns keine Kinder haben wollen. (Die Frauen kriegen die Kinder, nicht die Männer).

Außerdem erfahren die Menschen jetzt auch in den reichen Ländern die Schäden, die das Industriesystem seit seinem Anfang der Natur zugefügt hat. Die Politiker versprechen zwar, dass „es bald wieder aufwärts gehen wird“. Aber niemand glaubt ihnen mehr. Was die Menschen jedoch erleben ist die Zunahme von Kriegen und Katastrophen. Die Profiteure des herrschenden Systems und ihre Politiker versuchen zwar noch, dieses System zu retten, indem sie die Armen, vor allem arme Frauen, durch Mikrokredite in die Falle der Schuldenmacherei einbinden. Dieses Modell wurde zunächst durch den Nobelpreisträger Mohammed Yunus in Bangladesh ausprobiert. Doch wie Farida Akhter in dieser Nummer zeigt, hat es dort die armen Frauen nicht zu Reichtum geführt, sondern zur „Vernichtung der Armen“. Heutzutage werden die Kleinkredite auch in den reichen Ländern des Nordens als Allheilmittel zur Beseitigung der zunehmenden Armut propagiert. Heute nennt Yunus das jedoch „Social Business“. Selbst die EU will Kleinkredite zur Beseitigung der neuen Armut vergeben. Viele finden das eine großartige Idee. Veronika Bennholdt-Thomsen weist jedoch darauf hin, dass diese „Investition in die Armen“ schon vor langem von der Weltbank vorgeschlagen wurde, um die „Produktivität“ der Arbeit der Armen für die weitere Kapitalakkumulation zu nutzen.

In unserer Gesellschaft herrscht trotz all dieser Rettungsversuche eine Stimmung von Hoffnungslosigkeit und Resignation: „Da kann man sowieso nichts machen“ sagen viele.

Doch nicht alle sagen das. Viele treibt ihre Wut dazu, wie jene Amerikaner zu fragen: Wo bleibt das „Gute Leben“ für das wir lebenslänglich geschuftet haben?

Das „Gute Leben“ fällt aber nicht vom Himmel. Ohne Widerstand wird es nicht kommen. Außerdem muss unter „Gutem Leben“ etwas anderes verstanden werden als der stets gefüllte Supermarkt und permanentes Wachstum von Geld und Kapital.

In einem weiteren Teil zeigen wir darum auf, wo sich Widerstand gegen das herrschende System regt, wo die Menschen nicht mehr nur wieder zum Gewohnten zurückkehren wollen, sondern bereits eine andere Vorstellung von einem „Guten Leben“ entwickeln. Diesen Widerstand gibt es in allen Ländern der Welt. Wir berichten in diesem Infobrief über Protestbewegungen in Bangladesh, Indien, Europa und Deutschland.

Doch Widerstand allein genügt nicht. Aller Widerstand braucht eine Vision, eine Perspektive und diese Perspektive kann zur Bildung neuer sozialer Bewegungen führen. Das Ziel solcher neuen Bewegungen wird nicht mehr der große, plötzliche Umsturz aller Verhältnisse sein sondern das langsame Wachsen eines anderen Begriffes des „Guten Lebens“ als der bekannten. Diese neue Vorstellung fängt schon im gemeinsamen Widerstand an. Diese Vorstellung ist eher wie Samenkörner, die überall auf der Welt gesät werden und die im Boden heranwachsen, ohne das jemand viel davon merkt. Doch dann, wenn die Zeit reif ist, sprießen die Keime aller Pflanzen in ihrer Schönheit und Vielfalt hervor und verbreiten das Aroma eines besseren Lebens.

Zum Schluss berichten wir, wo der Widerstand gegen die Zerstörung des „Guten Lebens“ zu neuen Bewegungen, einer neuen Vision, neuen Perspektiven, neuen Beziehungen und einer neuen Spiritualität geführt hat. Für mich ist das, was Farida Akhter über „Nayakrishi Andolon“ – eine neue Bauernbewegung – in Bangladesh schreibt, das klarste und umfassendste Beispiel für das, was ein „Gutes Leben“ für alle Menschen und Lebewesen sein kann. Ich bin der Meinung, dass das, was in Bangladesh möglich war, auch bei uns möglich sein kann.

Maria Mies