Infobrief Ausgabe 22 (Mai 2006)

Was sagte Ahmadinedschad?
von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Die tonangebenden Medien, die uns täglich ihre Vielstimmigkeit vorführen, meldeten in den letzten Oktobertagen des Jahres 2005: „ Kriegserklärung gegen den jüdischen Staat - Irans Präsident fordert die Vernichtung Israels“ (Berliner Zeitung) - „Irans Präsident fordert Zerstörung Israels“ (netzeitung.de) - „Mit Empörung hat die internationale Gemeinschaft auf den Aufruf des neuen iranischen Präsidenten zur Vernichtung Israels reagiert - Irans Präsident will den jüdischen Staat ‚von der Landkarte tilgen'“ (Die Welt) - „Der Staat Israel solle dem Erdboden gleichgemacht werden - Aufruf des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zur Vernichtung Israels“ (taz) - „Irans Präsident will Israel von der Landkarte tilgen - Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad hat zur Zerstörung Israels aufgerufen“ (Der Spiegel) - „Irans neuer Staatschef: Israel 'von Landkarte radieren'“ (Focus) - „'Von der Landkarte tilgen' - Der iranische Präsident Mahmud Achmadinedschad hat am Mittwoch zur Zerstörung Israels aufgerufen“ (Die Zeit) - „Irans Präsident verlangt die ‚Tilgung Israels'“ (Hamburger Abendblatt) - „Vernichtung Israels befürwortet“ (Handelsblatt) - „Iran schürt Nahost-Konflikt: ‚Israel zerstören'“ (N24) - „Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad hat öffentlich gefordert, Israel von der Landkarte zu löschen“ (ZDF heute) - „'Von der Landkarte tilgen' - Irans Präsident fordert Vernichtung Israels - Ahmadinedschad: ‚Schandfleck Israel tilgen'“ (tagesschau.de) - „Aufruf zur Zerstörung Israels - Irans Präsident: Von der Karte tilgen“ (Rheinischer Merkur) - „Iran: ‚Israel wird ausradiert'“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) - „Irans Präsident droht Israel Vernichtung an“ (Frankfurter Rundschau).

Fassen wir zusammen: Die Nachricht lautete, Irans Präsident Ahmadinedschad habe angedroht oder befürwortet oder verlangt oder gefordert oder dazu aufgerufen, Israel zu zerstören, zu vernichten, zu zerschlagen, zu tilgen, von der Landkarte zu tilgen, von der Landkarte zu radieren, von der Landkarte zu löschen, dem Erdboden gleichzumachen, auszuradieren.

Und was hatte Ahmadinedschad tatsächlich gesagt?

Eines schien klar, denn das war in all diesen Formulierungen enthalten: Er habe Israel das Existenzrecht streitig gemacht. Auf diesen Punkt brachten es viele Kommentatoren und interpretierten es sogleich als Kriegserklärung. Aber stimmte denn das, worin sie übereinstimmten? Wenn wo zum Krieg geblasen wird, sollten wir genau hinhören.

Am 26. Oktober hatte der iranische Präsident vor Studenten in Teheran eine  Rede gehalten, in der er sich mit den USA und dem israelischen Besatzungsregime in Palästina befaßte. Vier Tage später veröffentlichte die New York Times den Text. Wir lasen ihn von vorn bis hinten und von hinten bis vorn und alles noch einmal und ganz langsam und fanden doch keine einzige Stelle, an der Ahmadinedschad dem Staat Israel das Existenzrecht streitig gemacht hätte.

Am Beginn seiner Rede verneint Ahmadinedschad ausdrücklich, daß das Problem Palästinas etwa als ein Kampf zwischen der jüdischen und anderen Religionen oder zwischen einem Land und der arabischen Welt zu verstehen sei. Den Staat Israel nennt er überhaupt nicht. Er spricht vielmehr vom Besatzungsregime in Palästina und von den USA als weltweitem Unterdrückerregime, und er setzt sich mit der Behauptung auseinander, eine Welt ohne diese Regime sei nicht möglich. Er widerspricht dieser Behauptung mit historischen Beispielen, vor allem diesem: „Wir hatten ein feindliches Regime in diesem Land, das undemokratisch war, bis zu den Zähnen bewaffnet, mit SAVAK, seinem Sicherheitsapparat (dem Geheimdienst der iranischen Schah-Regierung), überwachte es jedermann. Terror umgab uns. Als unser lieber Imam (Ayatollah Ruhollah Khomeini, der Gründer der iranischen Revolution) sagte, daß das Regime entfernt werden müsse, sagten manche, die politisch gut informiert zu sein behaupten, das sei nicht möglich. Alle korrupten Regierungen unterstützten das Regime, als Imam Khomeini seine Bewegung startete. Alle westlichen und östlichen Länder unterstützten das Regime sogar noch nach dem Massaker vom 7. September (1978) und sagten, die Beseitigung des Regimes sei nicht möglich. Aber unser Volk widerstand, und jetzt sind es 27 Jahre, daß wir ohne ein von den Vereinigten Staaten abhängiges Regime überleben.“

Der iranische Präsident bezeichnet also die Beseitigung der Regime, die in Israel und den USA an der Macht sind, als mögliches Ziel. Aber nirgends fordert er die Beseitigung oder Auslöschung Israels. Aus der Forderung nach Beseitigung eines Regimes die Forderung nach Beseitigung eines Staates zu konstruieren, ist grobe Irreführung, gefährliche Demagogie. Es ist Teil des Krieges gegen den Iran, der mit den Worten des Philosophen Georg Meggle bereits begonnen hat - nämlich mit der möglicherweise wichtigsten, der vorbereitenden Propagandaphase.

Ahmadinedschads Argumentation und Sprache unterscheiden sich ganz und gar von den Reden, die wir seit Jahren aus Washington hören. Es war beispielsweise der damalige stellvertretende Verteidigungsminister der USA, Paul D. Wolfowitz, der im September 2001 öffentlich ohne jede Scheu das Auslöschen von Staaten aufs Programm setzte; inzwischen ist Wolfowitz Präsident der Weltbank. Und es war Bush senior, der vom gewinnbaren Atomkrieg sprach, wenn nur das Überleben einer Elite gesichert sei.

Millionen deutsche Fernsehzuschauer vertrauen den Nachrichten der Tagesschau - zu unrecht, wie wir feststellen mußten. Am 27. Oktober 2005 meldete tagesschau.de über den Präsidenten des Iran: „Er zitierte den iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini: ‚Wie schon der Imam sagte, muß Israel von der Landkarte getilgt werden.'“ Falsch. Die beiden Stellen im Redetext, die sich auf Khomeini beziehen, lauten: „Als unser lieber Imam sagte, daß das Regime entfernt werden müsse, sagten manche, die politisch gut informiert zu sein behaupten, das sei nicht möglich.“ Und: „Unser lieber Imam sagte, das Besatzungsregime müsse von der Landkarte gewischt werden. Das war sehr weise.“ Es ist unzulässig, zu suggerieren, diese Äußerungen, die sich zunächst auf das Schah- und dann auf das Besatzungsregime in Palästina beziehen, richteten sich gegen die Existenz des Staates Israel. Eine unabhängige Übersetzung aus dem Persischen Original (wie es bei ISNA veröffentlicht ist) ergibt, daß Ahmadinedschad noch nicht einmal den Begriff 'Landkarte' verwendet. Er zitiert Ayatollah Khomeini mit der Aussage, dass das Besatzungsregime aus dieser Welt - wörtlich übersetzt: aus der Arena der Zeit verschwinden müsse. Also sinngemäß: für ein Besatzungsregime ist in dieser Welt bzw. in dieser Zeit kein Platz. Die von der 'New York Times' verwendete Formulierung 'wipe off the map' ist eine freie, verschärfende Übersetzung, die soviel wie 'dem Erdboden gleich machen' oder 'ausradieren' bedeutet. Die kaskadenartige Übersetzung zunächst ins Englische ('wipe off the map') und dann von dort ins Deutsche - und das noch dazu wörtlich ('von der Landkarte löschen') - führt immer weiter vom Original weg. Das Perfide an dieser Übersetzung ist, daß sich die Formulierung 'von der Landkarte löschen' nur auf einen Staat, nicht aber auf das Regime beziehen läßt, von dem Ahmadinedschad tatsächlich spricht.

Eine weitere Manipulation ist es, wenn tagesschau.de den iranischen Präsidenten folgendermaßen zu zitieren vorgibt: „Die neue Anschlagswelle in Palästina wird das Stigma im Antlitz der islamischen Welt ausradieren.“ Dort, wo wir bei tagesschau.de „Anschlagswelle“ lesen, steht in der New York Times schlicht „wave“ (Welle).

Falsch sind auch Darstellungen der tagesschau.de vom 14. Dezember 2005, Ahmadinedschad habe die Verlegung Israels in eine andere Weltgegend gefordert und den Holocaust als „Mythos“ bezeichnet. Ob seine Formulierungen im einzelnen sehr weise waren, sei dahingestellt, manche waren gewiß fragwürdig, unzulässig aber war es, wenn deutsche Medien seine eindeutige Aussage, der Holocaust rechtfertige keine Verbrechen an den Palästinensern, so auslegten, als hätte er den Holocaust geleugnet.

Eine Reuters-Meldung vom 21. Februar 2006 bestätigte: „Der iranische Außenminister Manuchehr Mottaki hat [...] dementiert, daß sein Land den jüdischen Staat Israel ‚von der Landkarte tilgen' wolle. [...] Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad sei falsch verstanden worden. ‚Niemand kann ein Land von der Landkarte entfernen.' Ahmadinedschad habe nicht den Staat Israel sondern das dortige Regime gemeint [...]. ‚Wir erkennen dieses Regime nicht als rechtmäßig an.' [...] Mottaki erkannte auch an, daß es den Holocaust gegeben hat, bei dem während des Nationalsozialismus sechs Millionen Juden ermordet worden waren.“ Die klarstellende Meldung erreichte bei weitem nicht den Verbreitungsgrad wie die Falschinformationen, die sich durch ständige Wiederholung in den Köpfen festgesetzt haben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel rückte den iranischen Präsidenten in die Nähe zu Hitler und Nationalsozialismus, indem sie am 4. Februar 2006 in München sagte: „Anfang der 30er Jahre haben auch viele gesagt, das ist nur Rhetorik. Man hätte rechtzeitig vieles verhindern können, wenn man gehandelt hätte... Wir haben uns in Deutschland verpflichtet, den Anfängen zu wehren und alles daran zu setzen, um deutlich zu machen, was geht und was nicht geht. Iran hat es selbst in der Hand.“

Das alles deutet auf Krieg. Slobodan Milosevic wurde zu Hitler. Es folgte der Krieg der NATO gegen Jugoslawien. Saddam Hussein wurde zu Hitler. Es folgte der Krieg der USA und ihrer Koalition der Willigen gegen den Irak. Jetzt wird der iranische Präsident zu Hitler. Und jemand wie Hitler kann hundertmal versichern, die Kernenergie friedlich nutzen zu wollen. Ihm wird nicht geglaubt. Jemand wie Hitler kann im Rahmen aller Verträge agieren. Ihm wird trotzdem vertragswidriges Handeln unterstellt. „Praktisch völlig übersehen wird im Westen, daß Anreicherung absolut legal ist. Kein Vertrag, kein Völkerrecht verbietet das. Im Gegenteil: Der Westen ist eigentlich verpflichtet, Iran dabei sogar zu helfen. So sieht es der Atomwaffensperrvertrag vor. Solange ein Land auf die Bombe verzichtet, hat es Anspruch auf technische Hilfe der Atommächte.“ (Jörg Pfuhl vom ARD-Hörfunkstudio Istanbul am 11. Januar 2006). Doch das alles zählt nicht, wenn das Oberhaupt eines Staates als Hitler stigmatisiert ist.

Die Bedrohungssituation wird auf den Kopf gestellt. Nicht die USA und ihre Verbündeten, die einen Atomkrieg planen, gelten als Bedrohung, sondern das auserkorene Opfer wird zum Dämon stilisiert. Basierend auf den angeblichen Äußerungen des iranischen Präsidenten, der sich dem US-Imperialismus nicht beugen will und dem (deshalb) weltweit unterstellt wird, er leugne den Holocaust und beabsichtige Israel (mit Atomwaffen) zu vernichten, soll ein weiterer Angriffs- und Eroberungskrieg der USA - nach den Kriegen gegen Afghanistan und den Irak jetzt gegen das dazwischen liegende Kernstück des Mittleren Ostens, den Iran, legitimiert werden.